Rechtsanwalt Scharmer plädiert im NSU Prozess

Aufklärungsanspruch nicht erfüllt – ein Schlussstrich kann nicht gezogen werden

 

Rechtsanwalt Scharmer plädiert im NSU Prozess

Aufklärungsanspruch nicht erfüllt – ein Schlussstrich kann nicht gezogen werden

 

Rechtsanwalt Sebastian Scharmer vertritt seit Beginn des Verfahrens Frau Gamze Kubaşık, die Tochter des in Dotmund am 4. April 2006 ermordeten Mehmet Kubaşık. Unter dem 22. November hielt er nun gemeinsam mit Frau Kubaşık sein Plädoyer im NSU-Prozess vor dem Oberlandesgericht München. Das Plädoyer reiht sich in einen gemeinsam abgestimmten Vortrag der Nebenklagevertreter_Innen Carsten Ilius, gemeinsam mit Elif Kubaşık, Berthold Fresenius, Stephan Kuhn, Dr. Peer Stolle, Dr. Björn Elberling, Alexander Hoffmann und Antonia von der Behrens ein. Die gesamten Plädoyers können hier selbstverständlich nicht wieder gegeben werden. Allerdings sollen zu jedem der gemeinsam abgestimmten Vorträge hier eine kurze Zusammenfassung und jeweils ausgewählte Zitate wiedergegeben werden.

 

Thema von Rechtsanwalt Scharmer: Dem rechtlich begründeten Aufklärungsanspruch der Nebenkläger_innen sind die Ermittlungen des Generalbundesanwalt und auch das Verfahren vor dem OLG nicht gerecht geworden. Insbesondere die Vielzahl der V-Leute im Umfeld des NSU lässt Fragen offen, was das Urteil klar festhalten sollte.

 

Inhalts-Zusammenfassung:

Ausgangspunkt für das Plädoyer ist die Beschreibung der sehr engen Beziehung von Gamze Kubaşık zu ihrem Vater Mehmet Kubaşık. Das Plädoyer stellt dann die Folgen der Hinrichtung Mehmet Kubaşıks durch Nazi-Terroristen am 4. April 2006 für Gamze Kubasik und ihre Familie dar – die nicht allein den strukturell rassistisch geführten Ermittlungen zuzurechnen sind (zu denen RA Ilius bereits plädiert hat), sondern auch dem NSU, dessen perfide geplantes und widerwärtiges terroristisches Konzept es war, keine Bekennerschreiben zu verfassen, gerade um die Ermittlungsbehörden gegen die Betroffenen ermitteln zu lassen.

Das Plädoyer erinnert an das Versprechen der Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland vom 23. Februar 2012, alles zu tun, „um die Morde aufzuklären und die Helfershelfer und Hintermänner aufzudecken und alle Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen.“ und statuiert, dass dieses Versprechen vom Generalbundesanwalt nicht gehalten wurde, sondern im Gegenteil der Generalbundesanwalt einer weiteren Aufklärung entgegen gearbeitet hat.

Der Prozess ist im Plädoyer beschrieben wie folgt: In den nun knapp 400 Tagen Hauptverhandlung vor dem OLG wurde trotz der Detailfülle der Beweisaufnahme und trotz über 800 eingeführten Beweismitteln nur einen Teilausschnitt des Komplexes von Organisation und Taten des sog. nationalsozialistischen Untergrundes abgedeckt.

Im Plädoyer folgen auf diese Feststellung der Beschränktheit der durch den Generalbundesanwalt und im Verfahren geleisteten Aufklärung die offenen Fragen Gamze Kubaşıks, die die Auswahl ihres Vaters als Opfer, das Wissen des Verfassungsschutzes über den NSU und die nicht genutzten Verhinderungsmöglichkeiten betreffen.

Das Plädoyer erläutert dann, dass die Aufklärung dieser Fragen aus Rechtsgründen von den Nebenklage im Verfahren aktiv eingefordert werden durfte. Der Gesetzgeber habe mit der gesetzlichen Ausformulierung des Rechts der Nebenklage zum Ausdruck gebracht, dass Nebenklägern kein Sanktionsrecht, jedoch ausdrücklich einen umfassenden Aufklärungsanspruch zubilligt. Der Erfüllung dieses Aufklärungsanspruch hat auch das Beschleunigungsgebot nicht entgegen gestanden.

Im Plädoyer wird anschließend nachgezeichnet, dass Verfahrensverzögerungen nicht durch die Verfolgung der Aufklärungsinteressen der Nebenklage entstanden sind, sondern vielmehr durch das Prozess-Verhalten der Angeklagten Zschäpe, vielzählige Befangenheitsanträge des Angeklagten Wohlleben und zuletzt auch des Angeklagten Eminger oder auch durch die Verweigerungshaltungen von Szene-Zeugen und Verfassungsschutzbehörden und deren Mitarbeitern. Es wird ausgeführt, wie ein strikterer Umgang mit den die Mitwirkung verweigernden Verfassungsschutz-Behörden und -Zeugen das Verfahren hätte durchaus beschleunigen können.

Im Plädoyer verdeutlichen dann 15 Schaubilder die Nähe einer Vielzahl von Informanten und V-Personen zum direkten Umfeld von Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe. Anhand der Schaubilder wird die Bedeutung von Tino Brandt, Kai Dalek, Michael See, Tibor R., Thomas Dienel, Thomas St., Ralf Marschner, Thomas Richter, Marcel D., Carsten Szczepanski, Stephan L. sowie weiterer namentlich bislang nicht bekannter V-Leute in der Entstehungsgeschichte und während der Aktivitäten des NSU bis 2011 präsentiert. Diese Schaubilder machen insgesamt deutlich, dass im Verfahren vor dem OLG zahlreiche Chancen ungenutzt geblieben sind, aufzuklären, wer, wann von den Taten des NSU wusste und sie durch was gefördert hat. Das Plädoyer stellt fest, dass dies nicht nur deshalb von erheblicher Bedeutung gewesen wäre, weil dadurch geklärt hätte werden können, warum die Taten nicht rechtzeitig verhindert worden sind und welche staatliche Mitverantwortung dies bedeutet, sondern insbesondere deshalb, weil V-Personen und entsprechende Akteneinträge zu diesen wichtige Beweismittel in einem der größten Indizienprozesse der deutschen Geschichte gewesen wären, die auch die Tatbeiträge der Angeklagten näher hätten beleuchten können.

Das Plädoyer schließt mit einem Appell an Senat, mit dem Urteil keinen vermeintlichen Schlussstrich unter den gesamten NSU-Komplex zu ziehen – und mit einem direkten Appell an die Angeklagte Zschäpe, zumindest nach Rechtskraft dieses Verfahrens zu sagen, wer involviert war, wer Bescheid wusste, geholfen und unterstützt hat. Für Gamze Kubaşık erkärt Rechtsanwalt Scharmer in den Schlussworten des Plädoyers, dass sie sich bei dem über die Mindestverbüßungsdauer entscheidenden Gericht dafür einsetzen würde, dass die Mittäterin des Mordes an ihrem Vater insgesamt vielleicht weniger von ihrer lebenslangen Freiheitsstrafe verbüßen muss, wenn sie alle weiteren beteiligten Unterstützer, Beihelfer oder gar Mittäter offenbart, sich ernsthaft von den Taten distanziert und dies durch ihre rückhaltlose Mitarbeit zur Aufklärung demonstriert.

 

Zitate:

An den Generalbundesanwalt gerichtet sagt RA Scharmer:

„Ihre Darstellung soll der Öffentlichkeit vor allen Dingen vorgaukeln, dass schon aufgrund der Länge dieses Verfahrens und des Umfanges der Beweisaufnahme klar sei, dass es keine weiteren Tatbeteiligten, deren Tatbeitrag nicht verjährt ist, gegeben hätte. Es soll ein Schlussstrich gezogen werden. Der Generalbundesanwalt setzt eine Käseglocke über diese fünf Angeklagten. Rechter Terror: das Werk von isolierten Einzeltätern, von einer elitären Kleingruppe, die selbst von der rechten Szene abgegrenzt agierte. Das hätten Sie vielleicht gern, meine Damen und Herren von der Bundesanwaltschaft, denn das würde im Nachhinein - wie Sie es hier auch propagieren - einen Persilschein für die über 13 Jahre konsequent in die falsche Richtung ermittelnden Behörden, die tief in die rechte Szene involvierten Verfassungsschutzämter und letztlich auch für Ihr eigenes Versagen nach dem 4. November 2011 ausstellen. Sie können sich gewiss sein, von meiner Mandantin Gamze Kubaşık erhalten Sie diesen Persilschein nicht. Aus ihrer Sicht haben Sie das Aufklärungsversprechen als oberste deutsche Anklagebehörde gebrochen.“

 

Kurz fasst RA Scharmer zum Generalbundesanwalt zusammen:

„Für Gamze Kubaşık steht der Generalbundesanwalt den Verfassungsschutzämtern in punkto Intransparenz, mangelnder Aufklärung und intoleranter Versuche der Deutungshoheit über den NSU-Komplex in nichts nach.“

 

Rechtsanwalt Scharmer zitiert eine Rede der verstorbenen Nebenklage-Vertreterin Angelika Lex vor Prozessbeginn:

„Das Gericht hätte in diesem Verfahren die einmalige Chance, zu zeigen, dass der Rechtsstaat entschlossen ist, auch das Versagen in den eigenen Reihen, staatliches Versagen, staatliche Mitwirkung an terroristischen Verbrechen offenzulegen und umfassend aufzuklären und damit auch zu versuchen, Vertrauen in staatliches Handeln wieder herzustellen, das bei den Opfern und Angehörigen und auch in breiten Teilen der Bevölkerung zu Recht verloren gegangen ist. Es wird unsere Aufgabe sein, die Aufgabe der Anwältinnen und Anwälte der Opfer und Angehörigen, in diesem Verfahren transparent zu machen und aufzuarbeiten, was in diesem Staat alles schief gelaufen ist, was versäumt worden ist und in welchem Maß sich der Staat mitschuldig gemacht hat.“

 

Rechtsanwalt Scharmer meint:

„Wenn also der Senat am Ende ein Urteil hier fällen wird, dann wäre es zumindest ehrlich, wenn er einräumt, dem Aufklärungsanspruch von Gamze Kubasik und vielen weiteren Nebenklägerinnen und Nebenklägern in diesem Verfahren nicht gerecht geworden zu sein. Es wäre ehrlich, zu sagen, dass man zwar die Verantwortlichkeit der hier Angeklagten hat feststellen können, aber nicht weiß, ob es weitere Mittäter, Beihelfer oder Unterstützer gegeben hat. Anhaltspunkte dafür gibt es, nachgegangen wurde ihnen in diesem Verfahren nicht.“

 

Anwürfen, die Nebenklage habe das Verfahren verzögert, begegnet Rechtsanwalt Scharmer so:

„Hätte man konsequent Akten des Bundesamtes für Verfassungsschutz, der Landesämter für Verfassungsschutz, wie wir es beantragt haben, beigezogen, hätte man mit der notwendigen Konsequenz und Nachhaltigkeit Vorhalte gerade bei Szene-Zeugen durchgeführt, hätte man die V-Leute in diesem Verfahren nicht geradezu mit Samthandschuhen auch durch den Generalbundesanwalt angefasst und wäre konsequent dem nachvollziehbaren Aufklärungsanspruch von u.a. Frau Kubaşık nachgekommen worden, so wäre meines Erachtens das Verfahren nicht nur schneller zu Ende gegangen, es hätte auch eine Aufklärung der Tat stattfinden können, die dem Anspruch aller Verfahrensbeteiligter – jedenfalls so wie ihn das Gesetz eigentlich vorsieht – gerecht werden können.“

 

Nach Präsentation der engen Verbindungen zwischen einer Vielzahl von V-Leuten und dem Umfeld des NSU hält Rechtsanwalt Scharmer fest:

„Wer also angesichts allein dieses Netzwerkes von V-Personen mit ihren direkten Verbindungen auch zum NSU-Kerntrio glauben will, dass es sich um eine abgeschottete, auch im Rahmen der rechten Szene autark agierende Terrorzelle gehandelt hat, der mag das tun. Realistisch ist das nicht.“

 

Zum NSU-Komplex insgesamt sagt RA Scharmer:

„Um es plastisch zu machen. Dass die Sache stinkt, kann jeder riechen, auch wenn man nicht genau sagen kann, woher und warum. Wir wollten es herausfinden und sind dabei an vielen Punkten gescheitert. Der Gestank indes bleibt.“

 

Rechtsanwalt Scharmers Plädoyer endet mit einem Appell an die Angeklagte Zschäpe:

„Frau Zschäpe, wenn Sie bereit sind, Verantwortung zu übernehmen und alle zu benennen, die hier auf der Anklagebank fehlen, wird sich Gamze Kubaşık an ihr heute abgegebenes, mehr als großzügiges Versprechen halten und sich persönlich bei dem Gericht, was über die Länge Ihrer Mindestverbüßungsdauer entscheidet, dafür einsetzen, dass die spätere Aufklärung der Taten ausreichend honoriert wird.“

 

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