Rechtsanwältin von der Behrens plädiert im NSU Prozess

 

Am Ende des Prozesses offene Fragen: Netzwerk des NSU und staatliches Mitverschulden

 

Rechtsanwältin von der Behrens vertritt seit Beginn des Verfahrens, den jüngsten Sohn des in Dortmund am 4. April 2006 ermordeten Mehmet Kubaşık. Unter dem 29. November und 05. Dezember hielt sie nun ihr Plädoyer im NSU-Prozess vor dem Oberlandesgericht München. Das Plädoyer reiht sich in einen gemeinsam abgestimmten Vortrag der Nebenklagevertreter_Innen Carsten Ilius, gemeinsam mit Elif Kubaşık, Sebastian Scharmer, gemeinsam mit Gamze Kubasik, Dr. Peer Stolle, Berthold Fresenius, Stephan Kuhn, Dr. Björn Elberling, und Alexander Hoffmann ein. Die gesamten Plädoyers können hier selbstverständlich nicht wieder gegeben werden. Allerdings sollen zu jedem der gemeinsam abgestimmten Vorträge hier eine kurze Zusammenfassung und jeweils ausgewählte Zitate wiedergegeben werden.

Thema:

Das Plädoyer befasst sich mit den beiden Punkten, die aus Sicht der Familie Kubaşık aus Dortmund im Prozess vor dem OLG München hätten aufgeklärt werden müssen: Netzwerk des NSU und staatliches Mitverschulden aufgrund von Nichtverhinderung der Taten des NSU. In zwei Teilen wird zunächst dargestellt, was zu Netzwerk und staatlichem Mitverschulden bis zur Selbstenttarnung nach dem 4.11.2011 bekannt ist, und dann erläutert, wieso dies nach dem 4.11.2011 nicht umfassend aufgeklärt wurde.

Inhaltszusammenfassung:

Einleitend stellt Rechtsanwältin von der Behrens den Auftrag der Familie Kubaşık an die Nebenklagevertreter dar, Aufklärung über das Netzwerk des NSU und das staatliche Mitverschulden zu erreichen. Dafür, warum die Aufklärung auch im Verfahren vor dem Oberlandesgericht hätte erfolgen müssen, verweist sie darauf, dass für die strafrechtliche Bewertung der terroristischen Vereinigung die Größe des Netzwerks relevant ist und dass zudem die Auslegung der Strafprozessordnung im Lichte der Vorgaben des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs ergibt, dass Tatumstände wie staatliches Mitwissen aufgeklärt werden müssen.

Im ersten Teil des Plädoyers wird in zehn einzelnen Abschnitten für den Zeitraum von 1990 bis 2011 chronologisch dargestellt, was bekannt ist über die Entstehung und Geschichte des NSU und dessen Netzwerk auf der einen Seite und über die Kenntnisse und Aktivitäten der Verfassungsschutz- und der Polizeibehörden des Bundes und der Länder auf der anderen Seite. Diesem Teil des Plädoyers ist die These vorangestellt, dass Größe des Netzwerks und Umfang staatlichen Mitwissens miteinander in Korrelation stehen. Diese These wird dann durch eine konkrete und detaillierte Betrachtung des Netzwerks von Personen um den NSU und deren Aktivitäten auf der einen Seite und der in den jeweiligen Zeiträumen gegen eben diese Personen und Personenverbindungen gerichteten Überwachungsmaßnahmen auf der anderen Seite unterfüttert.

Dieser Teil kommt zusammenfassend zu dem Schluss: weder die These von einem abgeschottet heimlich agierenden Trio noch die von der Ahnungslosigkeit der Verfassungsschutzbehörden anhand der Faktenlage ist haltbar. Vielmehr zeigt sich, dass der NSU auf ein großes Netzwerk zurückgreifen konnte und die VS-Behörden dieses Netzwerk von V-Leuten durchsetzt hatten.


Im zweiten Teil werden dann die Entwicklungen nach dem 4.11.2011 dargestellt: Einerseits nahmen die Verfassungsschutzbehörden steuernden Einfluss auf die Ermittlungsverfahren und den hiesigen Prozess, indem sie unter anderem Akten vernichtet oder „verloren“ haben und indem V-Personen und ihre V-Personen-Führer vor Gericht Wissen nicht offenbarten oder sogar aktiv logen. Der Generalbundesanwalt hat dieses Vorgehen der Geheimdienste schon durch die Ermittlungskonzeption erleichtert und sich im Verfahren schützend vor die Geheimdienste gestellt. Auch das Oberlandesgericht hat sich dem nicht entschieden genug entgegengestellt.

Mit der Chronologie von Netzwerk und Mitwissen ist eindeutig belegt ist, dass die Verfassungsschutzbehörden nicht ahnungslos und überfordert waren, sondern über Entstehung und Agieren des NSU Bescheid gewusst haben müssen. Gleichzeitig wird belegt, dass die Bundesanwaltschaft nicht etwa „jeden Stein umgedreht“ hat, sondern im Gegenteil die Ermittlungen ganz bewusst zu eng geführt hat.

 

Zitate:

Rechtsanwältin von der Behrens beschreibt den Auftrag der Familie Kubaşık an die Nebenklagevertreter: „Die Familie hat uns als ihren Vertretern von Anbeginn an deutlich gemacht, dass für sie, neben der wichtigen Frage nach der Verantwortlichkeit der hier Angeklagten, weitergehende Aufklärung wesentlich ist. Dabei sind für sie zwei Punkte zentral: erstens die Frage nach dem Netzwerk der für den Mord an ihrem Vater und Ehemann Verantwortlichen – insbesondere auch vor Ort in Dortmund – und zweitens die Frage nach dem staatlichen Mitverschulden. Die Familie hat von Anfang an gesagt, dass es für sie unvorstellbar ist, dass eine Mordserie wie die des NSU ohne staatliches Mitverschulden unentdeckt bleibt.“

Sie erklärt dazu: „Die beiden Kernanliegen der Familie, die Identität und die Rolle möglicher Helfer in Dortmund und das staatliche Mitverschulden aufzuklären, sind nicht voneinander zu trennen. Ein großes Netzwerk macht es sehr viel unwahrscheinlicher, dass es keine staatliche Mitwisserschaft und kein daraus resultierendes Mitverschulden gab. Wer von einer im Geheimen agierenden, vom politischen Umfeld abgeschotteten Kleingruppe vom sogenannten Trio ausgeht, kann sehr viel einfacher sagen, dass auch die staatlichen Stellen diese geheime Kleingruppe nicht kannten, als derjenige, der meint, dass ein Netzwerk von Personen in verschiedenen Städten von den Taten wusste und diese unterstützt hat. Dies gilt natürlich erst recht, wenn man zusätzlich davon ausgeht, dass zu diesem Netzwerk von Personen auch V-Leute des Verfassungsschutzes zählten.“

 

Rechtsanwältin von der Behrens gibt in ihrem Plädoyer zum Verfassungsschutz folgende Analyse ab: „Die Gefahr der Entstehung von militanten und rechtsterroristischen Strukturen war den Verfassungsschutzbehörden seit Anfang der 1990er-Jahre bekannt. Diese waren nicht auf dem rechten Auge blind, vielmehr spielten sie ihr Wissen in der Öffentlichkeit herunter, indem sie die Strukturen als Einzelfälle präsentierten. Auf diese intern sehr ernst genommene Gefährlichkeit reagierten die Dienste nicht mit konsequenter Gefahrenanalyse und Weitergabe der Informationen an die Strafverfolgungsbehörden und öffentlichen Warnungen, sondern mit Gestaltung und vermeintlicher Kontrolle dieser Strukturen, insbesondere über V-Personen. Sie erreichten damit deren Stärkung, statt ihrer Aufgabe gerecht zu werden, Gefahren frühzeitig zu erkennen und zu deren Beseitigung beizutragen. Dieser geheimdienstliche Ansatz in Bezug auf die rechte Szene und das V-Mann-System führte nicht zur Verhinderung der Entstehung des NSU und seiner Taten, sondern sicherte vielmehr seine Existenz.“

Die Verhinderung der Aufklärung durch die Verfassungsschutzbehörden hält Rechtsanwältin von der Behrens fest: „Die Verfassungsschutzämter haben die Aufklärung der zehn Morde, 43 Mordversuche und 15 Raubüberfälle systematisch verunmöglicht und hintertrieben. Dies geschah zunächst mit den Mitteln des Vernichtens, Verlierens und Unterdrückens von Beweismitteln, sowie durch das Mauern ihrer Beamten und ehemaligen V-Personen, wenn sie als Zeugen aussagen mussten. Soweit es noch Akten gibt, konnten sie nicht alle unabhängig geprüft werden. Das Bundesamt für Verfassungsschutz hat mit und ohne Begründung dem BKA Informationen vorenthalten und den Untersuchungsausschüssen Aktenvorlagen verweigert.“

Rechtsanwältin von der Behrens schließt mit den Worten: „Das hiesige Verfahren hat nicht die nötige Aufklärung erbracht. Dieser Umstand ist zu kritisieren, aber nicht überraschend. Die Machtverhältnisse zwischen unseren Mandanten und uns auf der einen und den Sicherheitsbehörden auf der anderen Seite ist zu ungleich. Die Aufklärung von Verbrechen mit staatlicher Verstrickung brauchen Jahrzehnte, wenn sie denn jemals gelingen. Sie braucht eine aktive, die Geschädigten und die Forderung nach Aufklärung nicht vergessende Öffentlichkeit, sich diesen verpflichtet fühlenden Parlamentarier, Journalisten und Anwälte. Sie braucht whistle blower aus dem System oder das Aufbrechen von Interessengegensätzen im Sicherheitsapparat, die Leaks von relevanten Informationen zur Folge haben. Die Forderung nach Aufklärung darf mit dem Ende dieses Verfahrens nicht verstummen und sich von den der Staatsräson geschuldeten Widrigkeiten nicht beirren lassen. In Bezug auf das Oktoberfestattentat hatte immerhin der Wiederaufnahmeantrag nach 34 Jahren Erfolg.“

 

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